
Wann genau sind unsere Kinder zu Statussymbolen geworden?
Mein Auto, mein Haus, mein Pferd, mein hoch begabtes Kind.
Meine älteste Tochter ist jetzt in der dritten Klasse. Heute hat sie zum ersten Mal ein Halbjahreszeugnis bekommen und war entsprechend aufgeregt. Ich auch, wenn ich ehrlich bin. Ein kleines bisschen. Wir haben die üblichen, eigentlich nicht weiter erwähnenswerten Schwierigkeiten. Hausaufgaben sind blöd, besonders wenn sie nicht im Lieblingsfach gemacht werden müssen. In der Pause hat die beste Freundin mit jemand anderem gespielt. Der Radiergummi ist mal wieder weg und die Mütze ist am Freitagnachmittag am Haken im Schulflur geblieben. Wirklich keine Dramen und ich bin eine recht entspannte Mama.
Den Nach-Zeugnis-Wahnsinn haben wir bisher nie so richtig mitgemacht, denn zu Beginn der Sommerferien sind wir meist weg. Bis dann wieder ein Treffen mit Schulfreunden ansteht sind die Noten schon längst Schnee von gestern und es gibt wichtigeres zu erzählen, von Fahrradunfällen, Schwimmbadabenteuern, neuen Filmen oder Büchern. Und das fand ich gut so.
Heute hatten meine Große und ich den Schulhof noch nicht ganz verlassen, als auch schon die erste Mit-Mutter auf mich zu stürmte um sich atemlos nach Notenschnitt und genauer Notenverteilung meiner Tochter zu erkundigen. Das Kind stand direkt neben mir, hätte also auch selbst befragt werden können. Schließlich ist es ihr Zeugnis und damit auch ihre Entscheidung ob sie den Inhalt mit irgendjemandem außerhalb der Familie teilen möchte.
Ich sah sie also mit fragend gehobener Augenbraue an und schon sprudelte sie los. Prima, so wußte ich dann auch gleich bescheid. Die Mit-Mutter warf ihr ein kurzes erleichtertes Lächeln zu und beeilte sich dann den Gefallen zu erwidern. Nicht, dass wir diese Information erwartet hätten. Keine von uns beiden konnte sich nach zehn Schritten noch daran erinnern.
Auf dem Heimweg bemühten wir uns um einen schnellen Schritt und den Eindruck innig in ein Gespräch vertieft zu sein, so dass wir zumindest unbehelligt nach Hause kamen.
Aber seither klingelt das Telefon. Inzwischen sitze ich hier an der Tastatur mit einem Glas Rotwein und dem festen Vorsatz jedes Klingeln zu ignorieren. Ein paar fehlen nämlich noch.
Ein paar was? Ein paar Mütter, deren Seelenheil davon abzuhängen scheint zu erfahren, wo ihr Kind leistungsmäßig im Vergleich zu jedem anderen Kind seiner Altersgruppe steht. Wie viele Einsen? Wie viele Zweien? Dreien? Oh Gott, doch keine Vieren, oder? Wie ist denn die Beurteilung formuliert? Weißt Du schon, wo sie damit im Klassenranking steht?
Im Klassen-Was? Nein, keine Ahnung. So was muss, glaube ich, auch nur die Lehrerin wissen.
Meine Weigerung, das Zeugnis auch nur auszugweise vorzulesen stieß den ganzen Tag über auf Unverständnis.
“Jetzt sag halt, ist doch kein Staatsgeheimnis. Ich les’ ja auch das von meinem Kind vor.”
Nein, ein Staatsgeheimnis ist es nicht, aber das erste Halbjahreszeugnis meiner Tochter. Auf das sie im übrigen unheimlich stolz ist. Sie berichtet gern von ihren Erfolgen und gibt auch mit viel zu erwachsenem Stirnrunzeln zu, dass sie sich an der einen oder anderen Stelle mehr hätte anstrengen können. Sie tut das, was ich ihr beigebracht habe: sie vergleicht sich mit sich selbst. Wie waren ihre Noten am Ende der zweiten Klasse und wie sind sie jetzt? Fühlt sie sich gut dabei? Ist sie zufrieden?
Ja, ist sie. Zufrieden und glücklich. Was also interessieren mich die Noten der anderen Kinder? Solange nicht eines, das mir in irgendeiner Weise nahesteht oder vertraut zu mir kommt um mir selbst davon zu erzählen, will ich das gar nicht wissen.
Warum also ist es so wichtig für fast jede andere Mutter im Ort? Nach dem gefühlt hundertsten, tatsächlich wohl aber achten Telefonat dämmerte es mir dann. Den anderen Müttern (vielleicht auch den Vätern, aber die rufen hier nicht an) ist es wichtig, weil die Kinder Teil ihrer Identität sind.
Wie viele Nachmittagsaktivitäten der Sohn oder die Tochter hat, ob häufig Freunde kommen oder das Kind woanders eingeladen wird, ja sogar ob es sportlich ist oder nicht lässt offenbar Rückschlüsse auf die Qualifikation der Eltern zu. Zu wenig ist dabei augenscheinlich schlimmer als zu viel.
“Macht der denn gar nichts?” musste eine Freundin sich vor einigen Wochen fragen lassen, deren zehnjähriger Sohn weder Mitglied in einem Sportverein ist noch ein Musikinstrument spielt oder sonst einer organisierten Tätigkeit im wöchentlichen Rhythmus nachgeht.
Doch, der Junge macht sehr wohl etwas. Er fährt viel Fahrrad, ist viel unterwegs und sammelt die unterschiedlichsten Insekten und Kriechtiere (zur ungeteilten Freude seiner Mutter) und sieht – oh Gott! – gerne mit seinen großen Schwestern fern. Es geht ihm gut dabei, und das ist seiner Mutter das wichtigste.
Offenbar reicht das aber nicht um sich als gute Mutter zu qualifizieren. Sie fördert ihn nicht genug, vergeudet seine Talente, verbaut ihm seine Zukunft. Sie lässt es zu, dass er sie schlecht dastehen lässt.
Ich verstehe es nicht, ganz ehrlich nicht. Was haben die Fähigkeiten, Vorlieben und Charaktereigenschaften meines Kindes mit mir als Person zu tun? Die Art und Weise wie ich meine Kinder erziehe reflektiert meine Fähigkeiten als Elternteil, das sehe ich durchaus. Ob ich meinen Kindern Höflichkeit, Empathie und Nächstenliebe vorlebe und ihnen damit deutlich mache, was für mich im Leben Bedeutung hat, auch das verstehe ich. Aber ob für meine Töchter Mathe eine Herausforderung oder ein Kinderspiel ist, ob sie gerne singen oder sich leicht mit anderen anfreunden hat nichts, aber auch gar nichts mit mir zu tun. Es ist Teil ihrer Persönlichkeit, die sich entwickelt, während ich staunend daneben stehe. Manchmal wünsche ich mir, sie wären mir ähnlicher, weil es mir das Verstehen und Helfen erleichtern würde, aber es ist ein Wunsch, nicht mehr. Ich entscheide nicht, was sie glücklich macht, was sie inspiriert, was sie ausmacht. Ich bin ein Beobachter, der sich seines Glückes und seines Privilegs durchaus bewusst ist.
Natürlich ist das Mutter-Sein Teil dessen, was mich als Mensch ausmacht. Kinder zu bekommen und mein Leben mit ihnen zu teilen hat mich geformt.
Die Art und Weise wie sie sich in der Welt bewegen hat etwas damit zu tun, was ich ihnen vorlebe. Aber sie sind kein Accessoire, keine Visitenkarte, kein Punkt in meinem Lebenslauf.
Wer etwas über mich erfahren will, der muss sich mit mir auseinandersetzen. Mit meinen Ideen und Ansichten, meinen Hobbys, meinen Vorlieben, meinen Wünschen, meinen Träumen, meinen Lastern.
Ob sie viele Freunde haben oder nicht sagt nichts über meine Qualifikation als Freund aus. Wenn sie sich nicht für Sport begeistern ändert das nichts an meiner Sportlichkeit. Ihr Talent für Sprachen hilft mir kein bisschen bei dem Versuch Französisch zu lernen.
Ich bin mein eigener Baum, gewachsen aus den Kernen eines Apfels, der irgendwann der Schwerkraft und dem natürlichen Reifungsprozess nachgegeben hat. Ganz egal wie weit ich mich vom Stamm entfernt habe und aus welchen Gründen, ich wachse unabhängig. Und meine Kinder tun das auch. Jeden Tag ein kleines bisschen mehr.
Ich hoffe, sie werden keinen Abhang hinunter rollen oder sich von einem Vogel irgendwo hin tragen lassen, wo ich nicht einmal ihre Wipfel sehen kann. Aber wenn es denn doch so ein sollte, dann wünsche ich ihnen Glück und guten Boden, starke Wurzeln und freundliches Klima. Es sind meine Äpfel, aber sie sind nur für kurze Zeit Teil von mir.
Also werde ich die Anrufe weiter ignorieren und mich statt dessen darauf konzentrieren meine kleinen Äpfel vor Wind und Wetter zu schützen und ihnen ein starker Halt zu sein, ganz egal welche Sorte sie am Ende sind. Und niemand wird ein Stück aus ihnen herausbeissen um im direkten Geschmacksvergleich herauszufinden welche Sorte nun an seinen eigenen Ästen wächst.Image